Oktober 2019: Bernd Lucke, Professor für Makroökonomie an der Universität Hamburg, scheitert bei seinem Versuch, eine Vorlesung zu halten: Linke Studenten brüllen ihn nieder. Auch ein zweiter Versuch, unterstützt von Sicherheitskräften und Schutzmaßnahmen, misslingt. Am Ende bleibt Lucke nur die Flucht aus dem Hörsaal.

Juli 2020: Der Kabarettist Dieter Nuhr formuliert in einem Beitrag für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) den Satz: „Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig.“ Wissenschaft sei „keine Heilslehre“, fährt Nuhr fort. Eigentlich Sätze, die nicht zu Aufruhr führen dürften.

Doch Nuhr, der Greta Thunberg und „Fridays for Future“ mit diesem Argument kritisiert hatte, wird daraufhin im Internet angefeindet. Kurz danach löscht die DFG seinen Beitrag. Zwei Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit, die eines verdeutlichen: Der Austausch verschiedener Ansichten, die freie Lehre und Forschung sind keine Selbstverständlichkeit mehr.

Es wäre wichtiger denn je

Dass Wissenschaftler mit ihren unterschiedlichen Erkenntnissen gesellschaftliche Debatten bereichern, dass es dazu gehört, andere Meinungen anzuhören und diese als Gedankenanstoß zu empfinden, wird in Teilen der Wissenschaft immer stärker infrage gestellt. Dabei wären gerade in Zeiten schnelllebiger Meinungskonjunkturen und einer Flut von Fake News grundlegende Erkenntnisse der Wissenschaft wichtiger denn je.

Wissenschaft könnte Orientierungswissen für gesellschaftliche Debatten über die Verantwortung des Menschen für seine Umwelt, über Integration und Teilhabe am soziokulturellen Leben oder zur Zukunft der internationalen Ordnung in einer globalisierten Welt zur Verfügung stellen. Insbesondere in den Humanwissenschaften (in diesem Beitrag sind damit vor allem die Geistes- und Sozialwissenschaften gemeint) macht sich seit Längerem eine Art Selbstbeschränkung und Meinungskonformismus breit.

Die deutsche Wissenschaftspraxis

Dort fehlen Kraft und Mut, aus unterschiedlichen Richtungen Probleme zu erörtern und zu diskutieren. Viele ihrer Vertreter beteiligen sich kaum an öffentlichen Debatten und ziehen sich in den Elfenbeinturm zurück. Oft wird rege publiziert, aber meistens nur für einige Spezialisten aus der eigenen Disziplin. Doch warum ist das so?

Ein Grund mag die Furcht vor medialen Empörungswellen sein, falls die eigenen Erkenntnisse nicht der Erwartungshaltung der meinungsführenden Teilöffentlichkeit entsprechen. Ein damit zusammenhängender wesentlicher Grund aber berührt die Grundfesten auch des deutschen Wissenschaftssystems: eine Wissenschaftspraxis, die nur darauf bedacht ist, immer neue Drittmittel für Forschungsprojekte einzuwerben.

Immer mehr Drittmittelanträge werden in immer kürzeren Zeiträumen geschrieben, um den Drittmittelfluss und damit das universitäre Leben am Laufen zu halten. Es hat sich ein eigener Kreislauf herausgebildet, ein Tanz um die Drittmittel wie ums Goldene Kalb. Ein Wissenschaftler, der die begehrten und nicht selten für den Fortbestand der eigenen Stelle erforderlichen Drittmittel einwerben möchte, schreibt einen Antrag. Er folgt dabei gängigen Forschungstrends und antizipiert, was dem Gutachter voraussichtlich gefällt.

Dabei ist der Gutachter von heute der Antragsteller von morgen. So entsteht ein selbstreferenzielles, bürokratisches System, das viel Energie und Zeit kostet und sich vor allem um die antizipierten Erwartungen und die erwartete Zustimmung dreht. Die Folge liegt auf der Hand: Das Interesse, aus den eigenen akademischen Echokammern herauszutreten und mit einer breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren, sinkt. Der Mut zum pointierten Urteil eines Hans-Peter Schwarz oder eines Hans-Ulrich Wehler fehlt heute in den Humanwissenschaften – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Am Personal mangelt es nicht

Große wissenschaftliche und gleichzeitig gesellschaftliche Debatten, wie in den 1960er Jahren um die Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die damit verbundenen langfristigen Folgen für die deutsche Politik, sind kaum mehr denkbar. Dass Ökonomen wie Lars Feld, Marcel Fratzscher, Clemens Fuest, Veronika Grimm, Katharina Spieß oder Ludger Wößmann in vielen gesellschaftlichen Debatten ihre Stimme erheben, während Historiker oder Politikwissenschaftler schweigen, ist unbefriedigend.

Dabei gibt es auch heute in den Humanwissenschaften über die Grenzen der eigenen Disziplin hinaus anerkannte Persönlichkeiten, die zeigen, dass sie wissenschaftlich scharfsinnig analysieren und gleichzeitig öffentliche Debatten anstoßen können. Der Soziologe Armin Nassehi, der Politikwissenschaftler Herfried Münkler oder die Historiker Andreas Rödder und Heinrich August Winkler sind neben anderen einige prominente Beispiele.

Sie übertragen ihre Forschungsergebnisse auf aktuelle Debatten rund um gesellschaftspolitische Entwicklungen, Fragen der Globalisierung und des Strukturwandels oder auf die Coronakrise und spannen damit einen Bogen von ihren fachlichen Studien zur breiten gesellschaftlichen Diskussion in der Gegenwart. Davon bräuchte es mehr.

Das Problem ist nicht neu

Gewiss, die Forderung, dass Wissenschaft neue Erkenntnisse und Thesen entwickeln und gleichzeitig den Mut haben müsse, sich nicht nur an ökonomischen Vorgaben und am gesellschaftlichen Mainstream zu orientieren, ist nicht neu. Bereits der Soziologe und Ökonom Max Weber kritisierte in seinem berühmten Vortrag „Die Wissenschaft als Beruf“ die Vorstellung, dass Wissenschaft „ein Rechenexempel“ geworden sei.

Doch am Beispiel des kamerunischen Historikers Achille Mbembe kann man eine Entwicklung beobachten, die darüber hinausgeht. Mbembe wird nicht nur von vielen Humanwissenschaftlern gewürdigt, sondern auch mit Auszeichnungen wie dem Gerda-Henkel-Preis oder dem Ernst-Bloch-Preis überhäuft. Er wirft den westlichen Staaten vor, in Klischees gegenüber Afrika gefangen zu sein und den eigenen Erfolg bis heute durch Sklaverei und Kolonialismus auf dem Rücken der Afrikaner aufgebaut zu haben.

Genau hinschauen

Es gehört zu einer Demokratie, dass auch solche Thesen vertreten und diskutiert werden. Dass Mbembes Publikationen jedoch fast von der ganzen Humanwissenschaft unkritisch gefeiert und dabei sogar antisemitische Passagen zunächst ausgeblendet wurden, zeigt wie unter einem Brennglas, dass gesellschaftspolitische Debattenanstöße und ein Korrektiv aus der Humanwissenschaft häufig fehlen.

„Das Apartheidregime in Südafrika und […] die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns“, schreibt Mbembe in seinem Buch „Politik der Feindschaft“. Es waren einige Publizisten oder der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein, die auf die Verharmlosung des Holocaust durch Mbembe und Widersprüche in seinen Werken hingewiesen haben.

„Was ist das für ein Staat, der sich, statt die Gesellschaft zu verteidigen, gegen seine Bevölkerung wendet? In einigen Ländern hat man im Namen von Schutz und Fürsorge entschieden, die Bevölkerung einzusperren, um Ansteckungen zu vermeiden.“ Das sind Sätze von Mbembe zur aktuellen Coronakrise. Widerspruch aus den Humanwissenschaften zu diesen Aussagen? Fehlanzeige!

Der Weg hinaus

Doch wie kann die intellektuelle Autonomie in den Humanwissenschaften gestärkt werden, die – in Anlehnung an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu – überhaupt erst der Legitimationsgrund für Wissenschaft ist? Wie können Humanwissenschaftler wieder eine stärkere Rolle in gesellschaftlichen Debatten einnehmen?

Erstens ist ein anderes gesellschaftliches Klima notwendig. Unkonventionelle Positionen und kontroverse Diskussionen sollten als bereichernd wahrgenommen und von Universitäten und Forschungseinrichtungen aktiv unterstützt werden. Das könnte dazu beitragen, dass Wissenschaftler wieder aus dem Elfenbeinturm herauskommen.

Zweitens sollte, so wie es in Großbritannien der Fall ist, die Medienresonanz als Erfolgskriterium und nicht als Malus für die Karriere von Wissenschaftlern gelten. Klar: Nicht jedes Forschungsergebnis ist gesellschaftlich relevant und Medienresonanz ist nicht notwendigerweise ein Qualitätsnachweis. Wichtig sind jedoch Anreize, damit Wissenschaftler sich bei gesellschaftlich relevanten Themen mit ihren Erkenntnissen und Positionen in die Debatte einbringen.

Drittens sollten mehr Finanzmittel in die Grundausstattung der Universitäten anstatt in die Drittmittelwirtschaft fließen. Drittmittel in der Wissenschaft sind nicht per se schlecht, sie helfen bei der zusätzlichen Ausstattung von Universitäten, sie halten das Wissenschaftssystem flexibel für neue Trends und können einen gesunden Wettbewerb um die besseren Konzepte befördern. Aber das Drittmittelsystem hat eben auch Nebenwirkungen, die im schlimmsten Fall dazu führen, dass Wissenschaftler im immer schneller laufenden Hamsterrad keinen Ausweg aus ihren eigenen akademischen Echokammern finden.

Es ist gleichermaßen die Verantwortung von Politik und Wissenschaft, dass Wissenschaftler sich wieder pointiert öffentlich äußern wollen und können.

Der Gastbeitrag erschien am 13. November im „Cicero“.