Identitätspolitische Kulturkämpfe wurden von linker Seite aktiv begonnen. Sie zu ignorieren, wäre ein schwerer Fehler. Denn Identitätspolitik von heute ist die Wirtschafts-, Innen- und Sozialpolitik von morgen. Ein Gastbeitrag.
„Wokeness“ ist in aller Munde. Die identitätspolitische Bewegung schwappt von den USA immer stärker nach Deutschland über. Im Namen von Gerechtigkeit und Antirassismus werden Menschen nach äußeren Merkmalen eingeteilt: Hautfarbe und ethnischer Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung, Religion oder Alter. Es geht nicht darum, was ein Mensch leistet oder was ihn als Individuum auszeichnet, sondern um Herkunftsmerkmale und eine gruppenbezogene Neuformierung der Gesellschaft.
Die Auswirkungen erleben immer mehr Menschen in ihrem Alltag: durch Diversitätsrichtlinien und Gendersprache, die Aushöhlung des Leistungsprinzips oder die gewaltsame Verhinderung unliebsamer Vorlesungen an Universitäten. Unternehmen verpflichten ihre Mitarbeiter zu Schulungen, um „ihre (weißen) Privilegien zu checken“. Die Deutsche Bahn bringt immer weniger Züge pünktlich ans Ziel, aber sie gendert und lässt die DB-Logos in Regenbogenfarben leuchten. Und Deutschland blamiert sich in Qatar.
Warnung vor „Geisterdebatten“
Dass viele Menschen diese Entwicklung als Problem sehen, wird aufseiten der politischen Linken gern negiert. Aber auch einzelne Vertreter der CDU warnen immer wieder vor „Geisterdebatten“, die die Wähler nicht interessierten, und raten der Union, pragmatisch Alltagsprobleme zu lösen, statt Kulturkämpfe zu führen. Wir halten dies für einen schweren Fehler. Denn identitätspolitische Kulturkämpfe werden nicht von Bürgerlichen imaginiert, sondern wurden von linker Seite aktiv begonnen. Probleme zu ignorieren hat aber noch nie geholfen, Probleme zu lösen. Und Pragmatismus ohne Grundlagen ist richtungslos.
Um die Grundlagen aber geht es. Denn Identitätspolitik verändert die Fundamente der Demokratie auf zweierlei Weise. Erstens durch eine Moralisierung, die legitime andere Positionen als „rassistisch“, „antisemitisch“ oder „menschenfeindlich“ diskreditiert und damit aus dem Spektrum des legitimerweise Sagbaren ausschließt. So verwundert es nicht, dass Allensbach-Umfragen mehrfach ermittelt haben, eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland habe den Eindruck, die eigene Meinung nicht frei äußern zu können.
Die zweite Verletzung der Grundlagen unserer Demokratie liegt in dem identitätspolitischen Anspruch, dass nur Benachteiligte Rederecht und damit Handlungsmacht haben sollen. So stritt eine grüne Abgeordnete dem Oppositionsführer der Union in den Debatten um das „Bürgergeld“ das Recht ab, sich zu äußern, weil Friedrich Merz materiell privilegiert sei. Abgesehen von dem Irrsinn, dass dieser Logik zufolge nur noch Betroffene über ihnen zustehende Leistungen entscheiden dürfen (mit dem die Demokratie am Ende wäre), zeigt dieses Schlaglicht: Identitätspolitik von heute ist die Wirtschafts-, Innen- und Sozialpolitik von morgen.
Diese politische Auseinandersetzung nicht zu führen käme einer Kapitulation christdemokratischer Politik gleich und würde den politischen Triumphzug einer illiberalen Ideologie ermöglichen. Nicht die bürgerliche Reaktion, sondern woker Aktivismus führt zur Spaltung der Gesellschaft: in politisch Korrekte und moralisch Abqualifizierte, in Opfer und Täter, in „Erweckte“ (das nämlich heißt „woke“ wörtlich) und „Beklagenswerte“. In diesen gesellschaftlichen Grundsatzfragen ist es die Verantwortung der Union, Haltung zu zeigen.
Sollte sie deshalb keine Sozialpolitik betreiben? Selbstverständlich nicht, im Gegenteil. Gerade in der Sozialpolitik braucht die CDU eine überzeugende Programmatik. Dies wird aber nur gelingen, wenn sie nicht dem Narrativ linker Kritiker auf den Leim geht, eine bürgerliche Gesellschaftspolitik und eine erfolgreiche Sozialpolitik würden sich gegenseitig ausschließen. Anspruch der Volkspartei muss es sein, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.
Der Gastkommentar erschien am 11. Januar 2023 in „Frankfurter Allgemeine“.