Gastbeitrag von Christoph Ploß, Andreas Rödder
Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen geben allen Parteien zu denken, die sich zur politischen Mitte zählen. Die AfD hat in allen diesen Ländern am meisten zugelegt. Das BSW schaffte es aus dem Stand, in allen Landtagen mit zweistelligen Ergebnissen vertreten zu sein. Bei der AfD handelt es sich um eine in Teilen gesichert rechtsextreme Partei. Das BSW trägt mit Sahra Wagenknecht den Namen einer Politikerin, die sich früher offen als Kommunistin bekannte und deren Staatsverständnis auch heute noch ernste Fragen aufwirft.
Warum sind diese Parteien offenbar für so viele Wähler attraktiv? Zu dieser Frage wird nicht erst seit den Landtagswahlen viel diskutiert und geschrieben. Genannt werden ein allgemeines Protestbedürfnis gegen die regierenden Parteien, etwa wegen deren klarem Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine.
Auch niedrigere Beweggründe wie Fremdenfeindlichkeit oder Sozialneid werden genannt. Ein entscheidender Aspekt aber kommt in den Diskussionen oft zu kurz: AfD und BSW eint die klare Ablehnung einer Gesellschaftspolitik, die in weiten Teilen der Gesellschaft als anmaßende Überspanntheit von Eliten in urbanen Elfenbeintürmen wahrgenommen wird.
Damit treffen sie offenkundig einen Nerv. Die Auswirkungen von Diversitätsrichtlinien, Gendersprache und die Aushöhlung des Leistungs- und Eigenverantwortungsprinzips erleben und erleiden immer mehr Menschen in ihrem Alltag. Arbeiten und nicht Arbeiten werden fast gleich gut bezahlt. Unternehmen verpflichten ihre Mitarbeiter zu Schulungen, um „ihre (weißen) Privilegien zu checken“. Die Deutsche Bahn bringt immer weniger Züge pünktlich ans Ziel, ist aber in der Lage, zu gendern und ihre Logos in Regenbogenfarben erleuchten zu lassen.
Aus dem berechtigten Kampf gegen die Diskriminierung Transsexueller ist ein strafbewehrtes Gebot des Staates geworden, biologische Männer als Frauen anzusprechen, wenn sie dies wünschen. Aus dem berechtigten Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist mancherorts das Diktat einer grammatisch unsinnigen Gendersprache geworden. Und an Universitäten, wo doch der Wettstreit der besseren Argumente Erkenntnisgewinn generieren sollte, ist die gewaltsame Verhinderung unliebsamer Veranstaltungen üblich geworden.
Ausgerechnet im Namen von Integration, Akzeptanz und Teilhabe werden Menschen nach äußeren Merkmalen und Gruppenzugehörigkeiten eingeteilt: Hautfarbe und ethnische Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung, Religion oder Alter. Es geht nicht darum, was ein Mensch kann und für andere leistet oder was ihn als Individuum auszeichnet, sondern um Herkunftsmerkmale und eine Neuformierung der Gesellschaft nach gruppenbezogenen Quoten.
Die politischen Vertreter der diesen Phänomenen zugrunde liegenden linksideologischen Gesellschaftspolitik haben bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland allesamt Schiffbruch erlitten. Der Widerstand gegen solche Übertreibungen und Fehlentwicklungen sollte aber nicht der AfD und dem BSW überlassen werden. Gerade die Parteien der politischen Mitte sind aufgerufen, auf dem Feld der Gesellschaftspolitik Flagge zu zeigen.
Angesichts des Zustands der Ampelkoalition wird es dabei auf die CDU ankommen, den beiden Parteien am rechten und linken Rand entgegenzutreten. Ihre politische Verantwortung liegt darin, den von den Wählern offenkundig dringend gewünschten Widerstand gegen linksideologische Überspannungen in die politische Mitte zu holen.
Zugleich geht es um den Beitrag bürgerlicher Politik zur Herausforderung der Stunde: die Selbstbehauptung des Westens und der offenen bürgerlichen Gesellschaft. Denn sie wird nicht nur von außen durch die autoritären und imperialen Mächte Russland und China bedroht, sondern auch von innen durch deren Sympathisanten in AfD und BSW. Zugleich wird die westliche Gesellschaftsform von klimaaktivistischen und identitätspolitischen Vertretern als grundsätzlich zerstörerisch und strukturell diskriminierend infrage gestellt.
Den negativen Selbstbildern muss bürgerliche Politik ein positives Selbstverständnis entgegenstellen. Denn diese westliche Gesellschaft hat den Menschen ein historisch einzigartiges Maß an Freiheit und Wohlstand ermöglicht. Dabei war sie nie perfekt, sondern voller Widersprüche.
Alle Menschen seien gleich geschaffen, hieß es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, doch Sklaven, Frauen oder Homosexuelle wurden dabei übersehen. Der Clou der liberalen westlichen Gesellschaft aber ist: Sie war immer in der Lage zu Selbstkritik und Selbstkorrektur – der Emanzipation vormals diskriminierter Gruppen.
Bürgerliche Politik ist offen für die Kritik von Benachteiligungen und tritt für ihre Beseitigung ein. Aber sie hält unsere Gesellschaft nicht für strukturell diskriminierend und will sie nicht komplett umgestalten. Bürgerliche Politik steht für Toleranz unterschiedlicher Lebensformen, aber sie lehnt öffentlichen Bekenntniszwang ab – und als nichts anderes empfinden die Menschen eine ihnen aufgedrängte gegenderte Sprache. Gerade in den ostdeutschen Ländern wecken gesellschaftspolitische Parolen im öffentlichen Raum ungute historische Erinnerungen.
Statt äußerer Herkunftsmerkmale und öffentlicher Bekenntnisse setzt bürgerliche Politik auf die Fähigkeiten und den freien Willen der einzelnen Menschen. Denn sie haben den westlichen Gesellschaften das lebenswerteste Leben der Weltgeschichte ermöglicht, von der modernen Medizin über die Mobilität bis zur Teilhabe an der Welt.
Und so wird die westliche Gesellschaftsform auch wie keine andere in der Lage sein, den Menschen eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen, vom emissionsarmen Verbrenner bis zu den Zukunftschancen unserer Kinder, oft in ganz neuen Berufen. Wer Visionen einer guten Zukunft hat, sollte nicht zum Arzt gehen müssen, sondern bürgerliche Politik wählen können.
Der Gastbeitrag erschien am 24. September 2024 in der „Die Welt“.