Einsamkeit und der Verlust sozialer Bindungen könnten langfristig viel größere Schäden anrichten als der ökonomische Absturz. Was lässt sich dagegen tun?


Ein Gastbeitrag von Andreas Rödder und Christoph Ploß

Corona lässt uns nicht los. Nachdem die deutsche Gesellschaft mit dem Lockdown eine der größten kollektiven Kraftanstrengungen in der Geschichte der Bundesrepublik unternommen hat, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen, steigen die Infektionszahlen nun wieder an. Eine Rückkehr zur alten Normalität wird es also nicht so schnell geben.

Umso wichtiger ist es deshalb, die mittel und langfristigen Folgeschäden der Pandemie zu betrachten. Vieles zeichnet sich dabei erst schemenhaft ab. In der Wirtschaft beispielsweise verdecken Kurzarbeitergeld und eine veränderte Insolvenzordnung das Ausmaß bevorstehender Unternehmenszusammenbrüche und drohender Arbeitslosigkeit.

Auch gesellschaftspolitisch werden wir mit Folgeschäden zu kämpfen haben. Das „Physical Distancing“, also die bewusste Reduzierung persönlicher Kontakte zu anderen Personen, ist virologisch notwendig – aber sozial brandgefährlich. Ohne Begegnungen mit Freunden, Kollegen und Kommilitonen, ohne Besuche von Konzerten oder Sportveranstaltungen vereinsamen die Menschen. Die Auswertung von nicht weniger als 148 Studien in den USA hat ergeben, dass Einsamkeit genauso schädlich sein kann wie Rauchen. Das Immunsystem des Körpers beispielsweise wird anfälliger für Krankheiten. Das Risiko einsamer Menschen, früher zu sterben als jene mit vielen sozialen Kontakten, ist demnach um die Hälfte höher.

Neben den medizinischen Risiken kann Einsamkeit auch zu einem Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Staat insgesamt werden. Als „Ligaturen“ bezeichnete der Soziologe Ralf Dahrendorf die sozialen Bindungen und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Organisation, die Voraussetzung für einen freiheitlichen Staat sind. In Deutschland zählen dazu Parteien, Vereine oder andere ehrenamtliche Institutionen. Doch viele von ihnen haben schon seit Längerem Schwierigkeiten, Nachwuchs zu finden. Die CoronaPandemie verschärft das Problem. Wenn Menschen nicht mehr oder nur ganz selten persönlich zusammenkommen können und sich stattdessen via Telefonoder Videokonferenz austauschen, dann droht ein Kahlschlag gesellschaftlicher Bindungen. Die „Ligaturen“ erodieren – und damit das Fundament unserer Gesellschaft.

Diese Entwicklung kann sich beschleunigen, wenn Menschen das Gefühl haben, politische Entscheidungen folgten einer gewissen Willkür. Und tatsächlich ist nicht alles, was derzeit gilt, logisch. So ist es auf Dauer schwer nachvollziehbar, warum Urlaubsreisen bis zum letzten Tag der Sommerferien uneingeschränkt möglich sind, während gleichzeitig über erneute Schulschließungen diskutiert wird – und an den Universitäten bis heute kein Regelbetrieb herrscht.

Es wird also künftig darauf ankommen, Zielkonflikte offen zu benennen, statt sie schönzureden oder zu leugnen. Anschaulich lässt sich das am Beispiel Schule erklären. Die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen ist ein Risiko, das wir aber ganz bewusst auf uns nehmen – weil wir im Zielkonflikt zwischen Virologie und Schulbesuch zugunsten von Bildung und Chancengerechtigkeit entschieden haben.

Außerdem benötigen wir nachvollziehbare Leitlinien, wie zwischen virologischen, ökonomischen und gesellschaftlichkulturellen Interessen künftig abgewogen werden soll. Denn jeder Bürger muss erkennen können, dass politische Entscheidungen nicht willkürlich getroffen werden. Dabei muss der gesellschaftspolitische Aspekt künftig eine deutlich wichtigere Rolle spielen als bisher, damit Menschen sich so viel begegnen können wie möglich. Die Zeit nach den Akutmaßnahmen erfordert einen strategischen und kohärenten Politikansatz, um Schaden nicht nur von Gesundheit und Wirtschaft, sondern ebenso von unserem gesellschaftlichen Fundament abzuwenden.

Der Artikel erschien am 19. September im FOCUS.